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Murat Kaynak

Murat Kaynak, Jahrgang 1970, kam mit sechs Jahren als Sohn eines Seh (gesprochen: Schech), eines alevitischen Glaubensgelehrten, nach Oberhausen. Die Aleviten sind eine weltlichere Strömung des Islams, der weltweit nur zirka 10 bis 25 Millionen Menschen angehören. Für sie beginnt der Glaube – im Gegensatz zu den Sunniten – nicht erst mit dem Propheten Mohammed, sondern er bezieht auch Abraham und Jesus, die im alevitischen Glauben ebenfalls als Propheten gelten, mit ein. Sie unterstützen den Laizismus und befürworten einen demokratischen Rechtsstaat. In der Türkei werden sie in der mehrheitlich sunnitischen Gesellschaft bis heute nicht als religiöse Minderheit anerkannt. In Deutschland leben ca. 600.000 Aleviten, in Augsburg sind es ca. 4000, die unter anderem in der Alevitischen Gemeinde in der Bozener Straße eine neue religiöse Heimat gefunden haben.

Murat Kaynak

Murat Kaynak lebte in der Türkei zusammen mit seiner Großmutter. Sie kümmerte sich um ihn, da seine Eltern in Deutschland als Gastarbeiter lebten, seit er neun Monate alt war. Als Kind hat er »definitiv nie mit dem Gedanken gespielt, jemals nach Deutschland zu kommen«, sagt er und sitzt uns heute in seinem Büro bei der BKK Essanelle in Augsburg gegenüber, wo er uns freundlich willkommen geheißen hat und uns nun von seiner Reise nach Oberhausen erzählt.
Seine zwei älteren Geschwister seien damals auch nach Deutschland nachgekommen. Er folgte als Letzter, als er 1976 mit sechs Jahren nach Deutschland »entführt« wurde. Da er damals zu seiner Oma ein sehr inniges und mütterliches Verhältnis hatte, gestaltete sich die Fahrt mit seinen Eltern von der Türkei nach Deutschland sehr schwierig. Zum einen wegen der langen Fahrt mit dem Auto, zum anderen weil er weder Lust noch Verständnis dafür hatte, mit seinen Eltern mitzukommen, die er ja eigentlich gar nicht kannte.

»Ich habe nie mit dem Gedanken gespielt, nach Deutschland zu kommen.«

»Das war für meine Eltern sehr schwierig und für mich natürlich umso schwieriger«, erklärt er. »Und meine Geschwister, die dabei waren, für die war ich natürlich bei der Fahrt und auch später der Störenfried, weil sie zu mir keinen Bezug gehabt haben.« Wir wollen wissen, wie seine erste Erinnerung an Deutschland aussieht: Murat Kaynak»Und dann bin ich in Deutschland angekommen, ich weiß ganz genau, ... wir sind nachts angekommen ... «, erinnert er sich. Genauer gesagt in Pfersee, in der Leonhard-Hausmann-Straße. Am nächsten Morgen und an seinem ersten Tag in Deutschland war er alleine zu Hause, seine Eltern waren in der Arbeit, seine Geschwister in der Schule. »Und dann bin ich aufgewacht und hab aus dem Fenster geschaut, dort hab ich dann eine rote Wippe (damals wusste ich noch gar nicht, was eine Wippe ist) gesehen und dachte mir: ›Aha, das ist Deutschland.‹« Seine ersten zwei Wochen verbrachte er vor dem Fenster, um herauszufinden, was das für ein komisches Spielgerät war, und beobachtete die anderen Kinder, wie sie auf ihr wippten. »Deutschland war für mich die ersten zwei Wochen eine rote Wippe!«, sagt er und lacht.

Ganz besonders interessiert uns dann auch noch seine Schulzeit in der Pestalozzischule in Oberhausen. An diese denkt er eher mit gemischten Gefühlen zurück: Sein Vater brachte ihn dort am ersten Schultag zum Unterricht, wo er in eine rein türkische Klasse kam. Obwohl viermal in der Woche Deutsch auf dem Stundenplan stand, spielte sich der Unterricht hauptsächlich auf Türkisch ab, da auch der Lehrer aus der Türkei kam. »Am ersten Tag war es so schlimm für mich, dass ich, nachdem mich mein Vater in der Schule abgeliefert hatte, gleich aus dem Fenster des Klassenzimmers sprang und wieder nach Hause rannte«, sagt er nachdenklich. Es war damals ja auch noch alles so neu und aufregend, denn in der Türkei hatte er noch keine Schule besucht. Die türkischen Schüler hatten einen eigenen Pausenhof, waren also getrennt von ihren deutschen Mitschülern. Auch der Umgang mit den türkischen Gastarbeitern und deren Kindern gestaltete sich anders als heute: »Man dachte damals: ›Wir kommen hierher, kaufen uns ein kleines Grundstück, ein kleines Haus, und vielleicht noch ein Geschäft, und dann gehen wir wieder zurück.‹« Von Integration war damals noch gar nicht die Rede.
Der Schulalltag gestaltete sich in Oberhausen auch weiterhin schwierigw und Herr Kaynak musste früh lernen, sich in der Klassengemeinschaft zu behaupten, da bei ihm noch eine weitere »Besonderheit« hinzukommt: »Ich gehörte auch noch religionsmäßig zu einer Minderheit, denn ich bin Alevit.« Als er unsere fragenden Gesichter sieht, erklärt er lächelnd: »Wir Aleviten sind die Weltlehre-Muslime, bei uns beginnt der Glaube nicht wie bei den Sunniten mit dem Propheten Mohammed, sondern mit Abraham.«

Als wir auf das Thema Familienfeiern zu sprechen kommen, fragen wir zunächst, wie er und seine Geschwister damals das Weihnachtsfest erlebt haben. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass im Haus eines islamischen Gelehrten Weihnachten gefeiert wird. Wir wurden jedoch eines Besseren belehrt: Es gab zwar keinen Weihnachtsbaum, aber es wurden Geschenke verteilt und Weihnachtslieder gesungen.

»Für meine Eltern war es einfach wichtig, dass wir Kinder uns wohlfühlen.«

Nach diesem spannenden Gespräch waren wir um einige Erkenntnisse reicher. Wir lernten beispielsweise einiges über die verschiedenen Strömungen im Islam. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten in seiner neuen Heimat fühlt Herr Kaynak sich hier auch heute noch sehr wohl. Besonders die Sache mit der roten Wippe fanden wir interessant. Leider sagte uns Herr Kaynak, dass es die Wippe von damals nicht mehr gibt. Aber was macht das schon? Er wird sich sicher immer gerne an diesen besonderen ersten Eindruck von Deutschland erinnern, da sind wir uns sicher.

Murat Kaynak

Text: LUNA KECKEISEN & RAPHAELA MEIER